Ein Todesfall innerhalb der Familie oder ähnlich traumatische Ereignisse belasten Kinder sehr. In dieses Haus in Wien Hernals kommen Eltern mit Kindern, die Furchtbares erlebt haben. Und hier bekommen sie gezielte therapeutische Hilfe. Die Boje – das Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen – bietet seine Dienste Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen an, die von schweren emotionalen Belastungen und einschneidenden traumtisierenden Lebensereignissen betroffen sind.
Oft spielt der Tod eine Rolle. Kinder und Tod. Das passt nicht zusammen. Wenn unser Kind mit dem Tod konfrontiert wird, stellen sie uns Großen viele schwierige Fragen.
‚Warum ist der Papa gestorben?‘
Wie erklärt man einem Kind, dass sein Vater an Krebs sterben musste?
`Auf keinen Fall darf man sagen, dass der Vater gestorben ist, weil er krank war!‘ betont Frau Dr. Rüsch von der Boje, `Wenn, dann muss man sagen, dass er sehr, sehr, sehr krank war. Denn sonst fürchtet das Kind vielleicht beim nächsten Schnupfen um sein Leben.‘
Dr. Rüsch spricht achtsam und empathisch. Man kann sich gut vorstellen, sie in einer schwierigen Situation um Rat zu bitten. Sie ist eine der Mitbegründerinnen des Ambulatoriums. Bevor es die Boje gab, mussten Minderjährige in Krisensituationen auf der Kinderpsychiatrie versorgt werden.
Kinder, die einen Elternteil verloren haben, entwickeln oft eine besondere Angst um den noch lebenden Elternteil. Wenn zum Beispiel der Vater gestorben ist, wollen sie besonders gut auf die Mutter aufpassen. Auch eine ganz harmlose Erkrankung der Mutter kann dann im Kind fürchterliche Ängste hervorrufen.
Auch die weit verbreitete Erklärung, jemand sei `friedlich eingeschlafen‘ kann von Kindern allzu wörtlich aufgefasst werden. Selber gehen Kinder ja auch jeden Abend zu Bett, um einzuschlafen. Sie fürchten dann vielleicht selbst zu sterben, wenn sie einschlafen oder entwickeln die Angst, jemand anderer könnte im Schlaf sterben, wenn sie selber nicht aufbleiben um aufzupassen. Solche Begründungen für Todesfälle können daher unter Umständen zu Schlafstörungen führen.
Trauerarbeit
Wie geht man damit um, wenn man als Mutter oder Vater selber trauert? Darf man vor seinen Kindern weinen?
Auch Angehörige können in der Boje beraten werden. Wie können sie mit ihrer Trauer umgehen, ohne die Kinder zu belasten? Wie findet man die richtige Balance?
Eltern brauchen ihre Trauer vor den Kindern nicht zu verstecken. Sie sollen sie auch gar nicht verstecken. Kinder dürfen sich in ihrer Trauer nicht isoliert fühlen. Problematisch wird es aber, wenn sich Erwachsene gar nicht unter Kontrolle haben.
Abschied nehmen
Soll man Kinder auf ein Begräbnis mitnehmen? Oder lässt man sie lieber zu Hause, um ihnen den Anblick der weinenden Angehörigen zu ersparen?
Nein! Kinder müssen genauso wie Erwachsene von geliebten Menschen Abschied nehmen dürfen. Wenn sie den Leichnam des Verstorbenen sehen wollen, ist dagegen auch nichts einzuwenden, außer der Verstorbene ist , beispielsweise, auf Grund eines Unfalls entstellt.
Dr. Rüsch erinnert sich an einen solchen Fall: `Ein Vater war bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Daher hatte man sein Gesicht mit einem Tuch bedeckt, aber die Tochter konnte trotzdem zumindest die Hand ihres Vaters noch einmal sehen.‘
Kinder und Gewalt
In die Boje kommen viele Kinder, die Erfahrungen mit Gewalt machen mussten. Auch Kinder, die vielleicht durch Gewaltanwendung einen Elternteil verloren haben.
Wenn zum Beispiel die Mutter eines Kindes ermordet wurde – vielleicht sogar vom eigenen Vater – wie kann man das dem Kind erklären? Kann man das einem Kind überhaupt erklären? Wie soll es das jemals verarbeiten?
`Wir sind für die Wahrheit,‘ sagt Dr. Rüsch und kann gut argumentieren, warum sich Kinder mit der Wahrheit leichter tun, als mit Notlügen und Ungewissheit.
Drei Kinder, die in der Boje beraten wurden, waren ZeugInnen geworden, als der Vater der Mutter Gewalt antat. Danach hatte er die Kinder zu einem Verwandten gebracht und war geflohen. Eine Therapeutin aus der Boje war schließlich die erste Person, die den Kindern mitteilte, dass die Mutter gestorben war. Sie waren daraufhin in erster Linie sehr dankbar, dass ihnen endlich jemand gesagt hatte, wie es um die Mutter stand. Das letzte Bild, das sie vor Augen hatten, war die am Boden liegende, blutende Mutter. – War sie noch am Leben? Wenn ja, hatte jemand die Rettung gerufen? Diese Ungewissheit machte die Situation für die Kinder noch viel schlimmer. Jedes Mal, wenn die Kinder danach die Therapeutin in der Boje trafen, zeigten sie auf sie und sagten:`Du bist die Frau, die uns die Wahrheit gesagt hat!‘
Die Fantasie ist oft viel schlimmer
Warum ist die Wahrheit so wichtig? Warum kann man Kinder nicht einfach `verschonen‘? – Weil die Phantasievorstellungen, die Kinder entwickeln, wenn sie nicht die ganze Wahrheit erfahren, oft viel schlimmer sind, als die Realität.
Ein wichtiger Punkt in der therapeutischen Beratung liegt daher darin, herauszufinden, ob ein Kind sich möglicherweise in irgendeiner Form für das Passierte verantwortlich fühlt. Ein Kind kann absurde und gleichzeitig fürchterlich belastende Theorien über ihre Mitschuld entwickeln, die es unausgesprochen mit sich herumträgt.
Ein viereinhalbjähriges Mädchen hatte beispielsweise ihre bewusstlos und blutende Mutter im Badezimmer am Boden liegend gefunden und war tapfer zum Nachbarn gelaufen und hatte gerufen: `Ich glaube, ich brauche die Rettung!‘
Leider war die Mutter im Spital nicht mehr zu retten. Das Mädchen trug die Vermutung in sich, dass die Mutter vielleicht überlebt hätte, wenn sie ihr ein Pfalster auf die Wunde geklebt hätte, bevor sie Hilfe geholt hat. Die Therapeutin vor Ort konnte das Kind entlasten, indem der Arzt auf der Intensivstation dem Mädchen versicherte: `Ich bin Arzt und ich habe schon viele Menschen gerettet. Aber auch wenn ich neben deiner Mama gestanden wäre, hätte ich sie nicht retten können.‘
Was für eine Erleichterung muss das für das kleine Mädchen gewesen sein! Ohne therapeutische Hilfe hätte sie vielleicht noch lange mit diesen unrealistischen tragischen Schuldgefühlen leben müssen.
„Die Mama ist im Himmel und passt auf dich auf“
Eltern können in der Boje mit TherapeutInnen im Detail besprechen, wie und was sie ihren Kindern sagen sollen.
Welche Auswirkungen kann es beispielsweise haben, wenn man einem Kind erklärt, dass die Mama im Himmel sei und von dort oben auf das Kind aufpasst?
`Das kann gefährliche Folgen haben, denn wenn die Mama auf mich aufpasst, muss ich nicht mehr links und rechts schauen, wenn ich über die Straße gehe. Manche Kinder nehmen den Satz wirklich wörtlich. Und außerdem, es ist vielleicht gar nicht so angenehm, wenn dich dauernd jemand beobachtet. Auch wenn es die eigene Mama ist….‘ gibt Dr. Rüsch zu bedenken.
Ein anderes Kind war überzeugt, dass sein Papa im Himmel endlich das Motorrad fahren würde, das er sich immer gewünscht hatte. Diese Phantasie hat Dr. Rüsch dem Jungen nicht ausgeredet: `Warum sollte er diese Vorstellung nicht haben? Schadet ja niemanden. Und außerdem kann ich nicht mit 100 prozentiger Sicherheit sagen, dass sie nicht wahr ist.‘
Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen – Die Boje
Hernalser Haupstraße 15
1170 Wien
01/ 406 66 02-13
Die Boje wurde vom Verein für Individualpsychologie gegründet.
Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, war der erste Tiefenpsychologe der sich intensiv mit der Psychogenese und Erziehung von Kindern auseinandersetzte. Gemeinsam mit der sozialdemokratischen Stadtregierung der Zwischenkriegszeit erschuf er die ersten Wiener Elternberatungszentren.
Finanzierung der Boje
Obwohl es in Wien keine vergleichbare Institution gibt, die dieses Angebot hat, ist der Weiterbestand des Ambulatoriums nicht nachhaltig gewährleistet. Die Boje finanziert sich zu 75% aus Krankenversicherungserlösen und zu 25% über Spenden.
Im Jahr 2008 wurde der Boje von der Stadt Wien einmalig eine Förderung ermöglicht. Somit ist die Boje weiterhin auf Spenden angewiesen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.
4 Kommentare
Nageh liebe Nellah. Das ist so traurig. Dass das wirklich so aus dem Leben gegriffen ist!
ein wirklich guter artikel. mein vater starb als ich drei jahre alt war. lange hat es gedauert bis man mir die wahrheit gesagt hat. er sei eingeschlafen hat man mir erklärt. nächtelang hab ich geweint und geschrien, nur damit meine mutter nicht auch schlafen geht und niemals wieder kommt. kinder können die wahrheit tragen- schön wenn eltern hier die hilfe erhalten um ihnen diese auch schonend näher bringen zu können!
Der Artikel hat mich sehr traurig gemacht, Ich hab mir oft überlegt, ob ich meine Kinder zu einem Begräbnis mitnehmen würde und war recht planlos. Ich hätte auch nicht gewußt, wen ich fragen soll. Zu erfahren, dass Kinder das aushalten und zwar besser, als würde man die Realität verleumden, ist irgendwie erleichternd. Ich bin froh, dass Menschen gibt, die sich damit auseinander setzen und Kindern und Eltern in Problemsituationen helfen!
Ein schwieriges Thema- entgegen der englischen Familie, habe ich Liam auch einfach die Wahrheit gesagt, als die geliebte englische Großtante an Krebs gestorben ist.
Ihm in einfachen Worten die Krankheit Krebs erklärt.
Daher finde ich es gut, dass sie sagt, die Wahrheit ist wichtig- ebenso wie die Wortwahl.
Gut zu wissen, dass im Fall der Falle eine Institution da ist.
Danke für den Beitrag.