„Verzeih mir meine Schlechtigkeit“ schreibt die 18jährige Mizzi Veith ihrem Vater 1908. Dieser Brief ist eines der raren Zeugnisse der Gedankenwelt und des Lebens von Prostituierten um 1900. Denn viele Dokumente und Texte gibt es nicht die aus nächster Nähe beschreiben, wie diese Frauen gelebt und gedacht haben.
Mizzis Vater, Marcel Veith, verkuppelt sie ab ihren 14. Lebensjahr an erwachsene Männer. Jeden Abend geht er mit ihr in Wiener Etablissements, wie „Venedig in Wien“, das „Ronacher“ oder ins „Cafe Europa“, fädelt Zusammenkünfte mit Männern aus der Elite der Monarchie ein, legt den Preis fest und kassiert das Geld. Auf der Kundenliste stehen Graf Stollberg, oder Graf Pototzky, Statthalter von Lemberg – oder die poshe Schülerschaft des Theresianum.
Als 8jähriges Mädchen kommt Marie mit ihrer Mutter Anna vom Land nach Wien. Ob Marcel Veith ihr leiblicher Vater ist, werden die Eltern nie aufklären. Sicher ist, dass er, entgegen seiner eigenen Darstellung, kein Graf und Mizzi daher auch keine Komtesse ist.
Marcel zeigt dem Mädchen die Welt der Reichen und Schönen. Sie ist begeistert vom Glitzer und Komfort und bereit alles für ihn zu tun. Mit 14 Jahren fängt sie unter Marcel Veiths Anleitung an sich zu prostituieren. Die Familie lebt durch ihre Einkünfte auf großem Fuß. Trotzdem ist Mizzi ein Teenager-Mädchen wie jedes andere auch und verliebt sich in den jungen Chauffeur Viktor. Viktor weiß von ihrer Tätigkeit und hält trotzdem zu ihr. Viele Tagebucheintragungen von Mizzi handeln von ihrer koketten On-Off-Beziehung. Sie necken sich, machen Ausflüge aufs Land, machen sich rar, um sich dann wieder in die Arme zu fallen. Der Vater versucht auf unterschiedlichen Wegen die Beziehung zu beenden, denn wenn sie mit Viktor unterwegs ist, kann sie kein Geld verdienen.
Doch Marcel Veith soll bald andere Sorgen haben. 1908 wird er wegen Kuppelei angezeigt und vor Gericht gestellt. Auch Mizzi muss wegen Unzucht in Untersuchungshaft, wird aber bald enthaftet. Nur wenige Tage darauf schreibt sie den unglücklichen Brief an den Vater. Während er sich vor Gericht verantworten muss, werden es die vielen Kunden der Marie nie müssen.
Prostitution um 1900 – in Wien eine Normalität
Um 1900 gibt es bereits laute Stimmen, die Mädchenhandel und Prostitution verurteilen. Marcel Veith bekommt auch recht bald in allen Etablissements Lokalverbot. Mizzi muss daher mit einer anderen Prostituierte durch die Nachtlokale ziehen, die sie bei der Akquise unterstützt. Poldi ist ein paar Jahre älter als sie und gilt nicht als so hübsch und elitär, wie die „Komtesse“. Poldi hält den kontrollierenden Vater die ganze Nacht telefonisch am Laufenden.
Prostitution wurde immer schon mythologisiert und als harmlos und glitzernd verkauft um Kunden anzuziehen. Das ist um 1900 nicht anders als heute. Doch wie es Prostituierten wirklich geht kann man damals ganz offen auf den Straßen Wiens sehen. Allein im ersten Bezirk sollen um die 55.000 Prostituierte arbeiten. Jeder weiß, wie wenig Frauen als Dienstmädchen oder Fabriksarbeiterinnen verdienen und dass die Prostitution die einzige Chance für sie ist, sich und die Familie zu erhalten. Man weiß auch, mit welchen Versprechungen arme Mädchen aus den östlichen Regionen der Monarchie in die Hauptstadt gelockt werden, und wo sie am Ende landen. Als die ersten Gerichtsverfahren gegen Kuppler, wie Marcel Veith, oder Kupplerinnen, wie Madame Riehl (zu ihr kommen wir später), öffentlich werden, wird auch die Haltung der Gesellschaft zur Prostitution immer kritischer.
Wer diese sachte wachsende Stimmung gegen Prostitution und Zuhälter nicht goutiert, ist der Gesellschaftskritiker Karl Kraus. Wenn es um weibliche Sexualität, Gleichberechtigung und Prostitution geht, hat der scharfsinnige Analytiker einen blinden Fleck. Für ihn ist Marcel Veith ein Held, der seiner Tochter die Türen in ein besseres, freieres und lustigeres Leben öffnet.
Die „Kindsfrau“ Irma Karczewska
Er selbst beschäftigt sich nicht nur in Wort und Schrift mit jungen Prostituierten und ihren Kupplern, sondern umgibt sich auch in persona mit sehr jungen Schauspielerinnen (oder solchen, die es werden wollen). Die Lebemänner um 1900 bevorzugen „Kindfrauen“ als Liebesobjekt. Diese stammen aus der Arbeiterklasse und leben, im Gegensatz zu den züchtigen Bürgerstöchtern, ihre Sexualität frei aus – zumindest in den begehrlichen Augen der Männer.
Irma Karczewska ist eine von ihnen. Mit 14 Jahren nimmt Karl Kraus sie, mit dem Versprechen für immer für sie zu sorgen, aus ihrem mittellosem Elternhaus und führt sie in das Leben einer „Hetäre“ ein. Sie wird zum Kult- und Liebesobjekt der Männer um Karl Kraus, lebt in Saus und Braus – zumindest bis man das Interesse an ihr verliert. Da ist sie noch keine 30 Jahre alt.
Heute würde man von „Grooming“ sprechen wenn erwachsene Männer Minderjährige mit Schmeicheleien und Geschenken gefügig machen.
Fritz Wittels, Peter Altenberg , Aldolf Loos und eine endlose Liste an „respektablen“ Männern ihrer Zeit beten junge Frauen an, sind direkt besessen von ihnen, aber gleichzeitig nicht in der Lage sie als ganzheitliche Menschen wahrzunehmen. Sie erkennen auch nicht das Machtgefälle, dass sich zwischen ihnen spannt. Sowohl was das Alter angeht, als auch ihre finanziellen Möglichkeiten bis hin zum Netzwerk, das ihnen zur Verfügung steht.
Der Bordell-Roman, der in Vergessenheit geriet
Das alles beschreibt bereits 1911 die Journalistin Else Jerusalem in ihrem Bordel-Roman „Der heilige Skarabäus“. Detailliert und mit viel Fingerspitzengefühl. Das Buch ist ein wahrer Schatz an „Insiderwissen“ aus der Welt der Mädchenhändler und Kupplerinnen um 1900. Verständlicherweise wird die Publikation skandalisiert und verkauft über 20 Auflagen. Eindringlich und ungeschönt beschreibt Jerusalem, wie die Frauen in den Bordellen nicht viel mehr wert sind, als „Rinderfleisch“ und schon kleine Mädchen ausgebeutet und misshandelt werden.
Woher weiß Else Jerusalem all diese Details? Unter anderem verfolgt sie den Prozess der Kupplerin Madame Riehl. Diese hält Frauen wie Sklavinnen und sieht darin nichts Verfängliches. Der Fall hält 1906 die ganze Stadt im Atem. Gleichzeitig mit Else Jerusalem sitzt auch ein anderer Journalist im Gerichtssaal und verfolgt mit großem Interesse den Prozess: Karl Kraus. Beide hören die gleichen Zeugenaussagen nehmen aber weitgehend unterschiedliche Eindrücke mit.
Kraus kritisiert vor allem die Bigotterie der Gesellschaft: Warum steht Madame Riehl vor Gericht, während der Polizeikommissar ungestraft bleibt, obwohl er die Riehl hat walten lassen, so lange er gratis als Kunde kommen durfte? Eine berechtigte Frage. Das Schicksal und das Leid der Frauen lassen ihn aber weitgehend unberührt.
Wie es dazu kommt, dass einige Jahre später auch ein prominenter Mann, und Freund von Kraus, wegen Unzucht vor Gericht landen wird und was aus Else Jerusalem, Mizzi Veith und Irma Karczewska wird, könnt ihr in unserer Dokumentation „Prostitution unterm Doppeladler“ sehen.
Ein großes Dankeschön an unsere ExpertInnen: Brigitte Spreitzer (Germanistin und Herausgeberin der Neuauflage des „Der heilige Skarabäus„), Michaela Lindinger (Wien Museum), Walter Schübler (Autor „Komteß Mizzi„, Katharina Prager (Wien Bibliothek), Christa Bauer (Chefredakteurin „Kulturgeschichten„), Gerhard Murauer (Wien Bibliothek) und Albert Eibl (Verleger „Der heilige Skarabäus„/DVB Verlag).