Rhea hat Neurofibromatose. Eine Krankheit, über die keiner spricht, weil sie fast unbekannt ist. Dabei ist NF gar nicht so selten. Eines von 3000 Kindern leidet an ihr. Damit ist sie in der Häufigkeit vergleichbar mit dem Down-Syndrom. Rheas Eltern haben harte drei Jahre hinter sich. Und viele harte Jahre noch vor sich. Rhea scheint die Strapazen sehr gut zu verkraften. Sie formuliert Wortwitze, beobachtet und analysiert ihre Umwelt neugierig und aufgeweckt – und: Sie ist extrem kooperativ. Vor allem im Krankenhaus. Mit ihrer Disziplin und Geduld beeindruckt sie regelmäßig die ganze Station. Eine unvergleichliche Kindheitsgeschichte.
Rhea war erst drei Monate alt, als ihre Mutter Nina Flecken auf ihrer Haut entdeckte, die vorher noch nicht da gewesen waren.
Cafe au lait Flecken können auf Neurofibromatose hinweisen
So genannte Cafe au lait-Flecken. Ein merkwürdiger Name für ein Symptom, hinter dem sich die schreckliche Erkrankung Neurofibromatose (NF) verbergen kann. Das erfuhr sie noch am selben Abend – und zwar im Internet – dem Ratgeber Nummer Eins besorgter Eltern. Gleichzeitig weiß jeder, dass man im Netz keine Diagnose, dafür viel Verunsicherung finden kann.
NF ist eine Erbkrankheit. Aber weder in Ninas noch in Claas Familie war diese Krankheit bisher aufgetreten. Nina entschloss sich trotzdem, prophylaktisch ins Spital zu fahren, um sicher zu gehen, dass mit Rhea alles in Ordnung ist.
Claas: „Man fährt in erster Linie ins Spital, um beruhigt zu werden. Niemand geht davon aus, dass sein Kind schwer krank ist. Nina ist also nur sicherheitshalber ins AKH gefahren, aber von dort aus hat sie mich dann weinend angerufen.“
Im AKH wurde der Verdacht auf NF bestätigt. Bis die Diagnose dann aber gesichert war, vergingen noch einmal sechs Monate. Sechs Monate, in denen die Eltern ununterbrochen, jede Stunde des Tages an nichts anderes denken konnten und sich an den Rest Hoffnung klammerten, dass es sich doch nur um eine harmlose Pigmentstörung handeln könnte. Rheas Krankengeschichte fing also genauso an, wie es auch dem Charakter von NF entspricht – mit permanenter Ungewissheit.
Claas: „Das zeichnet diese Krankheit aus. Du weißt nie, was als nächstes kommt. Wenn du ein Symptom erfolgreich behandelt hast, kann jederzeit das nächste kommen. Ein Geschwür, ein Fibrom, viele Fibrome. Man sucht den Körper des Kindes täglich nach Anzeichen ab. Man sucht und will gleichzeitig nichts finden. Die Unsicherheit ist immer da.“
Niemand weiß, wie sich Rheas Krankheit weiterentwickeln wird. Es gibt keine relevanten Vergleichsdaten. NF entwickelt sich bei jedem Kind anders. Es kann jederzeit ein neues Fibrom oder Geschwür auftreten. An jeder Stelle ihres Körpers. Es können vereinzelte sein, oder auch unzählige. Oder gar keins.
Wenn mit den Teenagerjahren die Hormone einschießen, ist wieder mit verstärkten Schüben zu rechnen. Erst im Erwachsenenalter beruhigt sich die Krankheit in den meisten Fällen. Es kann allerdings weiterhin zur Neubildung von kutanen und subkutanen Fibromen kommen.
Wer klärt die Eltern auf?
Da nur Nina in Karenz war, ging sie in den ersten Monaten, bevor die Diagnose feststand, meistens allein mit Rhea zu den Ärzten. Nachdem ihr das erste Mal gesagt worden war, dass der Verdacht auf NF besteht, rief sie Claas verzweifelt an und sagte, dass er sie sofort abholen müsse. Sie könne jetzt nicht alleine sein. Im AKH hatte man sie anfangs weder richtig aufgeklärt noch seelisch betreut. Man hatte sie abgefertigt wie eine Patientin mit einem gebrochenen Arm. Einerseits sah man keine Veranlassung für ein ernsthaftes Gespräch, weil ja nur der Verdacht auf NF bestand, und andererseits behandelten sie viele Ärzte in den kommenden Wochen, als stünde die Diagnose längst fest. Ein Orthopädie fragte sie beispielsweise gerade heraus: „Was hat sie denn? NF1 oder NF2?“ Nina blieb der Mund offen stehen: „Es steht noch gar nicht fest, dass sie überhaupt NF hat. Wir haben noch keine gesicherte Diagnose.“
Erst ein halbes Jahr später wurde ihnen bei einem Gespräch im AKH die Diagnose nach einem von den Eltern eingeforderten Gen-
test bestätigt. Bei diesem Gespräch wäre es geblieben, wenn Nina nicht zusammengebrochen wäre. Erst dann wurde ein Psychologe beigezogen.
Ein Systemfehler, wie Nina und Claas meinen. Jeder Elternteil braucht psychologische Betreuung, wenn er gerade erfahren hat, dass sein Kind eine so schwere Krankheit hat. Und eigentlich hätten sie die ganzen sechs Monate vor der Diagnose dringend eine Stütze und eine detaillierte Aufklärung gebraucht. Und Ärzte wiederum bräuchten eine Anleitung, wie sie mit Eltern umgehen sollen, die monatelang mit dieser furchtbaren Ungewissheit leben müssen.
Nina: „Ich habe von den Begegnungen mit den verschiedenen Ärzten ein Trauma davon getragen. Und das wirkt sich so aus, dass ich mit Rhea nicht mehr allein im Krankenhaus sein kann. Das geht gar nicht. Jedes Mal, wenn ich mit ihr alleine war, ist irgendwas passiert. Ich kann nur mehr mit Claas dort sein. Letztens ist sie hingefallen und hat sich eine Kopfwunde zugezogen und geblutet. Ich bin aufgestanden und wollte mit ihr ins Spital fahren, aber da ist mir schwarz vor den Augen geworden.“
Seit die Diagnose feststeht, wird Rhea allerdings auf der neuro-
onkologischen Ambulanz in der Kinderklinik im AKH betreut, und dort fühlt sich die Familie sehr gut aufgehoben.
Claas: „Durch die vielen Kontrollen kennt man die Ärzte mittler-
weile sehr gut, und es besteht eine Vertrauensbasis. Nun haben wir endlich Ansprechpartner für alle Fragen, die auftauchen und wissen Rhea in kompetenten Händen. Auf der Station ist Rhea schon fast berühmt, weil sie so ein tapferes Mädchen ist. Ich hab das Gefühl, dass sie bei allen Ärzten und Schwestern sehr beliebt ist, weil sie eigentlich immer Freude ausstrahlt und positiv ist.“
Rhea wird alle drei Monate auf Geschwüre und Fibrome gescannt. Claas: „Für mich war der Moment bis jetzt am schlimmsten, als ich bei der zweiten MR erfahren habe, dass Rhea einen Tumor an beiden Sehnerven hat. Am selben Tag hatte Nina zu mir gesagt: ‚Endlich kann ich die Zeit mit Rhea genießen und ein wenig aufatmen.‘ Und es war ein Tag vor unserem Hochzeitstag. Und deswegen habe ich mir gedacht, ich sag es der Nina erst nächste Woche. Warum sollte ich ihr das Wochenende versauen? Statt dessen habe ich meinem Bruder vom Gehirntumor erzählt, und gerade wie ich ihm erklärt habe, wo der Tumor sitzt, ist mir erst so richtig bewusst geworden, wie schlecht ich das selber verkrafte und wie furchtbar dieser Gehirntumor ist und da hatte ich dann einen Meltdown. Ich habe die schrecklichen Neuigkeiten dennoch während des Wochenendes für mich behalten, aber es war eine schreckliche Last und ich war froh, als ich es schließlich Nina erzählt habe und wir dann gemeinsam diese Last getragen haben.“
Eineinhalb Jahre her ist jetzt her, dass die Opticus Gliome an den Sehnerven gefunden wurden, die immer größer wurden. An den Sehnerven kann man nicht operieren. Das Risiko einer Erblindung ist zu groß. Es kam also nur eine Chemotherapie in Frage. NF-Patienten sprechen erstaunlicherweise überdurch-
schnittlich gut auf die Chemotherapie an. Aber ein zweijähriges Kind?
Claas und Nina müssen dicke Latexhandschuhe tragen, wenn sie Rhea wickeln, weil der Urin durch die Chemotherapie so giftig ist, dass sie nicht damit in Berührung kommen sollen.
Claas: „Aber meine Tochter kommt durch die Windel dauernd damit in Berührung. Sie hat das Gift sogar ins sich. Früher habe ich sie gewickelt, wenn die Windel voll war. Auf Grund der Chemotherapie habe ich sie oft zehnmal am Tag gewickelt.“
Wenn man ein Kind hat, das Chemotherapie macht, braucht es einen Elternteil, der zu Hause bleibt und es betreut. Einen Tag die Woche muss Rhea auf jeden Fall im Spital verbringen und alle drei Wochen in der Induktionsphase. Und nun schläft sie alle sechs Wochen in der Erhaltungsphase zwei Nächte im Spital. Dazwischen darf sie in den Kindergarten gehen, aber nur wenn sie, bzw. die anderen Kinder gesund sind.
Claas ruft deswegen jeden Tag in der Früh im Kindergarten an und fragt, ob gerade eine Krankheit grassiert. Rheas Immunsystem ist so schwach, dass eine gewöhnliche Grippe für sie sehr gefährlich werden kann.
Claas: „Manchmal sitze ich drei Wochen mit ihr nur zu Hause. Da geht dann gar nichts. Wir können nirgends hingehen. Die Krankheit schränkt ihr Leben stark ein. Ich fahr mit Rhea auch nicht mit den öffentlichen Verkehrsmittel.“
Der Staat sieht für diese Lebenssituation keine Förderung vor. Man geht davon aus, dass ein dreijähriges Kind sowieso in den meisten Fällen mit einem Elternteil zu Hause ist. Nina und Claas wollten aber immer beide arbeiten gehen und haben ihr Lebens-
konzept darauf ausgerichtet. Nina arbeitet in einem PR-Büro und Claas befand sich vor zwei Jahren noch im Unternehmensgrün-
dungsprogramm. Er wollte sich mit einer Fair Trade Plattform selbstständig machen. Seine Pläne hat er auf unbestimmte Zeit verschoben und betreut Rhea nun Vollzeit.
Claas: „Rhea kennt sich im Krankenhaus richtig gut aus. Sie kennt alle Abläufe und erinnert auch die Krankenschwestern manchmal daran, was sie in welcher Reihenfolge zu tun haben. Stroboskop und Stethoskop sind ganz normale Begriffe für sie.“
Rhea bekommt regelmäßig über einen implantierten Aortazugang die Chemotherapie zugeführt. Jedes Mal wird eine Nadel in die Haut eingeführt. Während der stationären Aufenthalte bekommt sie zwei Tage und zwei Nächte hindurch verschiedenste Infusionen. Während manche andere Kinder bei diesem Vorgang körperlich fixiert werden müssen, liegt Rhea ganz still und abwartend da und hält ihrem Vater die Hand. Niemand könnte es ihr verdenken, wenn sie sich gegen die Nadel wehren würde, aber zwischen ihr und ihrem Vater herrscht ein ungeheures Vertrauen. Sie sind ein richtiges Krisenteam geworden.
Nach dem Anstechen darf sie jedes Mal aus der Lade der tapferen Kinder im Krankenhaus was aussuchen und will das Geschenk dann gleich stolz der Mama zeigen.
Nina: „Es klingt zwar abgedroschen, aber man lernt für den Moment zu leben. Für mich sind die neuralgischen Punkte die Untersuchungen, nach denen wir auf den Befund warten müssen um zu erfahren, ob sich etwas verschlimmert hat, neue Probleme dazugekommen sind, oder man aufatmen kann. Die Angst begleitet mich dann im Alltag sehr intensiv. Aber wenn das fürs Erste wieder erledigt ist, kann ich sie für drei Monate etwas wegschieben. Das ist mir am Anfang gar nicht gelungen. Im ersten halben Jahr habe ich jeden Tag an die Krankheit gedacht. Mit der Zeit habe ich gelernt, die Krankheit als Teil unseres Alltags zu akzeptieren. Ändern können wir es eh nicht, aber wir können versuchen, unsere Tochter zu einem selbstbewussten Menschen zu erziehen. Und ich freue mich sehr und bin total stolz darauf, dass ich so eine tolle Tochter habe!“
Nina hofft, dass es vielleicht in zehn bis fünfzehn Jahren ein Medikament gibt, das Rhea und anderen NF-Betroffenen helfen kann. Aus der Forschung kommen immer wieder hoffnungsvolle Nachrichten.
Claas: “Wir leben in einer Situation, die wir leider nicht ändern können. Aber trotzdem haben wir eine Wahl, wie wir mit dieser Situation umgehen. Es gibt immer mindestens zwei Seiten von denen man etwas betrachten kann. Unser Rat an alle Familien, die eine ähnliche Situation vorfinden: Fragt nicht nach dem Warum!
Diese Frage hält einen nur davon ab, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind. Auch wenn es uns nicht immer gelingt, versuchen wir immer positiv zu bleiben und das Glück in jedem Moment zu suchen. Sich ständig den Worst-Case-Fall vor Augen zu halten, macht einen seelisch und körperlich krank. Unsere Tochter ist das größte Geschenk, dass wir jemals erfahren haben. Sie ist der wunderbarste Mensch und sie ist perfekt, wie sie ist. Wir blicken voller Hoffnung in unsere Zukunft“.
Rhea kommt unter dem Interview immer wieder zu uns ins Zimmer und holt sich Spielsachen oder erzählt den Eltern von ihrem Ausflug mit der Oma. Sie macht dabei wiffe Scherze und zieht raffinierte Grimassen. Süßigkeiten isst sie übrigens keine. Sehr ungewöhnlich für ein dreijähriges Mädchen. Dabei backt man ja gerade mit Kindern gerne Nachspeisen und schenkt ihnen gerne Schokolade. Aber damit kann man ihr keine Freude machen, seufzt Nina schulter-
zuckend. Aber Rhea ist einfach ein ungewöhnliches Mädchen mit einer ungewöhnlichen Biografie. Rhea Superstar eben. •
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