Erziehungsratgeber handelt von Wassergeburten, Schlafprotokolle, Langzeitstillen, Kinesiologie für Kinder, Zeckenimpfung ja oder nein, Schnuller und Sauberkeitstraining…die Liste der Gebote und Verbote ist endlos und polarisierend. Die Journalistin Andrea Schafroth hat gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Peter Schneider ein Erziehungsbuch wider die pädagogische Aufrüstung und die erzieherischen Hypes geschrieben.
Andrea Schafroth
Der gemeinsame Mittagstisch wird heute von Supernannys, Großeltern und eigentlich jedem, den man fragt, einstimmig zum Schlüsselerlebnis eines funktionierenden Familienlebens stilisiert. Eltern, die es nicht schaffen, die Familie einmal am Tag um den Esstisch zu platzieren, gemeinsam Selbstgekochtes zu verzehren und dabei liebevolle, aufmerksame Gespräche zu führen, könnten sich gleich selber beim Jugendamt anzeigen.
Doch die Realität sieht oft anders aus: So sehr wir Erwachsenen uns ein stimmiges Beisammensein FÃœR die Kinder wünschen, so wenig scheinen diese oft daran interessiert zu sein, zu kooperieren: `Die Gemüsebeilage sei fad, es gäbe nichts über die Schule zu erzählen und überhaupt: warum könne man nicht beim Essen fernsehen?‘
Dann sitzen wir Eltern verletzt und verärgert am Tisch und stochern selbst lustlos im Gemüse. Doch prompt sollen die Kinder schlafen gehen, gibt es plötzlich ganz ganz viel zu erzählen! 20 Mal wird man wieder ins Zimmer gerufen: `Ich muss dir noch was wichtiges sagen!‘ `Ich habe Durst!‘ oder noch besser: `Ich habe Hunger! Kann ich das Gemüse jetzt essen?‘
Warum ist es so schwer alles richtig zu machen? Andrea Schafroth sieht jedenfalls keinen Grund zur Nostalgie. Früher haben die Familien auch nicht besser funktioniert und die Kinder waren auch nicht glücklicher, als heute. Erziehung sei ein Balanceakt mit einem großen Anteil an Unvorhersehbarem. Das müsse man schon akzeptieren. Und fetischierte Rituale solle man gleich mal wieder ablegen. Wir haben sie gefragt, wie wir am Besten downcoolen können!
Familie Rockt: Wie kann man als Eltern lernen, locker zu lassen?
Jedenfalls nicht dann, wenn man gerade alles andere als locker ist, was im Alltag mit Kindern ja leider häufig vorkommt. Aber wenn man zwischendurch immer wieder einen Schritt zurück macht, sich selbst reflektiert und sein eigenes Verhalten und jenes der Kinder in einem grösseren Zusammenhang betrachtet, wird man vielleicht insgesamt schon etwas gelassener: Mit 20 schlafen nämlich die allermeisten Kinder durch, brauchen keinen Schnuller mehr, sitzen brav am Tisch und essen gerne gut. Und zwar nicht, weil wir sie so toll erzogen haben, nicht, weil wir dieses getan oder jenes gelassen haben, sondern in erster Linie, weil das der Lauf der Dinge ist.
Haben Sie immer schon gewusst, dass sie Kinder bekommen werden?
Mit 20 konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich mal Kinder haben würde. Mit 29 brachte ich meine erste Tochter zur Welt und fand, ein Kind zu haben sei doch eigentlich schön, aber auch genug. Heute habe ich drei Kinder – mehr werden es allerdings sicher nicht mehr. Mein Kinderwunsch war nie ein grundsätzlicher, er ergab sich jeweils in bestimmten Lebenssituationen.
Wie ist die Situation für Mütter in der Schweiz?
Die meisten Mütter sind heute berufstätig, haben aber oft nur kleine Teilzeitpensen, weil die Kinderbetreuung in der Schweiz nach wie vor nicht einfach zu organisieren und vor allem sehr teuer ist.
Haben Sie auf Grund der Kinder Rückschläge im Beruf erlebt?
Von Rückschlägen würde ich nicht sprechen, aber ich glaube schon, dass die berufliche Entwicklung stagniert, wenn man Kinder hat bzw. wenn man sie auch tatsächlich mitbetreut. Die Arbeitswelt funktioniert nach wie vor so, als bräuchten Kinder keine Eltern, die sie aufziehen.
Warum wollen uns die Kinder das Leben so schwer machen?
Ich glaube nicht, dass sie es uns schwer machen wollen. Sondern eher, dass ihre Interessen naturgemäss nicht dieselben sind wie die unseren. Warum sollten sie brav am Tisch sitzen wollen, keine Lust auf Süssigkeiten und Fernsehen haben und ihren Willen nicht mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versuchen?
Wie enttäuschen uns Kinder am Ängsten? Wo sind wir am verletzlichsten?
Mich enttäuschen meine Kinder nicht, aber manchmal nerven sie gehörig. Allerdings nimmt man die Launen der Kinder, ihre Abgrenzungsversuche oft persönlich und ist insofern verletzlich.
Von welchen Erziehungsidealen sollte man sich schleunigst verabschieden?
Von der Vorstellung, dass es nur einen richtigen Weg gibt. Und vom Glauben, dass es einen linearen Zusammenhang gibt zwischen unseren Erziehungsbemühungen und dem was dabei herauskommt. Ob ein Kind einigermaßen gut herauskommt und glücklich wird, hat schlicht nicht damit zu tun, wie viel oder wenig Schokolade und Fernsehminuten wir ihm als Kind erlaubt haben.
Welche Intensionen können hinter Erziehungstipps liegen?
Im besten Fall nehmen sie etwas vom Druck weg, der heute auf Eltern lastet. Im schlechten, leider nicht seltenen Fall, geben sie simple Rezepte ab, die vorgeben, dass man alles in den Griff bekommen kann, wenn man sie befolgt. Dabei muss man mit Kindern notgedrungen genau das Gegenteil lernen: damit umzugehen, dass man eben vieles nicht so einfach in den Griff bekommt.
Wie weit korrumpiert unsere Eitelkeit unsere Erziehungsmethoden? Wir wollen liebe brave herzeigbare Kinder. Neigen wir dazu sie manchmal schön zu reden oder sie mit Geschenken zu bestechen, damit sie den zufriedenen Kasperl machen?
Es ist tatsächlich hart zu ertragen, dass sich Kinder mit Vorliebe ausgerechnet auswärts und vor anderen Leuten unmöglich benehmen. Und es ist nur menschlich, dass Eltern das mit allen möglichen Mittelchen verhindern möchten. Ich finde unsere unlauteren Versuche auch nicht so schlimm, schließlich klappt es mit dem guten Benehmen auf Kommando ohnehin nie dauerhaft, Bestechung hin oder her.
Wie viel müssen wir leisten, um gute Eltern zu sein (wieviel Bioessen, wieviel Freizeit opfern, wieviele Gesellschaftsspiele spielen…etc)?
Das lässt sich nicht so einfach messen und definieren. Bestimmt kommt es nicht darauf an, ob wir Kinder Bio ernähren und wie regelmäßig wir mit ihnen Lego spielen. Entscheidend ist, dass wir einen Zugang zu unseren Kindern haben, dass wir sie mit ihren Eigenheiten schätzen und leben lassen, dass wir Vertrauensperson sind für sie und ihre Entwicklung wahrnehmen und miterleben. Und klar ist auch: Das alles braucht Zeit und Geduld.
Die meisten Eltern haben irgendwann Aggressionen gegenüber ihren Kindern. Muss man ein schlechtes Gewissen haben?
Man hat automatisch eins, was ebenso normal ist wie die Tatsache, dass man solche Gefühle manchmal hat.
Unter Müttern gibt es oft große Rivalitäten um die `richtigen Erziehungsmethoden‘. Was spielt sich hier ab?
Da kann ich nur vermuten: Eifersucht, Unsicherheit, Kompensation? Das Kinderhaben und die Erziehung sind heute mit hohen Erwartungen aufgeladenen, denen von außen und den eigenen. Da ist die Gefahr wohl schon grösser, dass man sich über den Umgang mit den Kindern definiert und entsprechend sensibel reagiert, wenn man sich in Frage gestellt fühlt.
Haben Sie manchmal `bereut‘ Kinder bekommen zu haben – in der Art `ohne sie, wäre alles viel leichter gewesen‘?
Es gibt immer wieder Momente, in denen ich denke, wie viel leichter mein Leben jetzt gerade ohne Kinder wäre. Und manchmal kann ich mir vorstellen, dass mein Leben auch mit weniger Kindern hätte schön sein können. Aber konkret kann ich mir nicht vorstellen, eins meiner drei Kinder nicht bekommen zu haben.
Im Dschungel der Erziehungstipps….gibt es da auch ein paar grundsätzliche Weissheiten, die Sie empfehlen können?
Man sollte Kinder nicht nach irgendwelchen fixen Vorstellungen aufziehen. Und am besten funktionieren Erziehungsmethoden, die einen auch entsprechen. Was nicht bedeutet, dass man sich selber und seinen Umgang mit den Kindern nicht immer mal wieder in Frage stellen sollte.
Andrea Schafroth ist Journalistin und Mitinhaberin der Scheller Schafroth Rijks GmbH, einem Büro für Journalismus, Graphic Design und Kommunikation. Sie lebt mit ihrem Partner und ihren drei Kindern im Alter von 14, 7 und 3 Jahren in Zürich.
Ein Kommentar
Danke – sehr entspannend! Ich leide sehr unter meinen Wahnvorstellungen von einem perfekten Familienleben!