Emma Tenniswood hat drei Kinder, zwei haben eine Behinderung. Die Lebensplanung der Familie wurde dadurch vollkommen umgehauen – das kann jedem von uns passieren.
Wenn sie mit anderen Eltern über ihr Leben mit zwei besonderen Kindern, die eine Behinderung haben, spricht, fällt immer wieder ein Satz, der tröstend wirken soll: Es wird schon wieder. Aber dieser Satz ist leider nicht wahr. Denn es wird nicht wieder. Man gewöhnt sich daran und es wird leichter, aber es wird nicht wieder.
Es kann jeden treffen!
Emma versteht, dass sich nicht betroffene Eltern schwer tun, wenn sie mit einer Mutter konfrontiert sind, die nicht das Glück hatte, nur gesunde Kinder zu bekommen. Manchmal würde sie sich aber wünschen, dass sie einfach nur Anteil nehmen würden, anstatt zu versuchen, das Problem klein zu reden und zu verharmlosen. Es gibt nichts zu verharmlosen. Das Leben ist leider kompliziert und manchmal traurig, und manche Dinge kann man nicht ändern. Es kann jeden treffen und wer nicht betroffen ist, braucht sich nicht schuldig zu fühlen. Aber man kann sich ein Stück weit auf die Realität des Gegenübers einlassen.
Tobias ist zwölf Jahre alt und ein wiffer, netter Bursche. Blonde Locken und ein offenes Gemüt. Neben ihm steht Laura. Sie ist zehn Jahre alt und begrüßt mich genauso interessiert und aufgeschlossen wie der große Bruder. Beide haben eine Behinderung. Nicht alle Kinder sind allen Menschen gleich sympathisch. Ich bin da nicht anders. Aber mit diesen beiden werde ich gleich warm. Sie nehmen mich wahr, antworten offen und verstellen sich nicht aus Höflichkeit. Sie sind lebhaft und gleichzeitig nicht ignorant. Emma führt mich auf ihre Terrasse. Es duftet nach Obstkuchen und ich fühle mich fast selbst wie ein Kind und freu mich voll. Der warme Streusel-Rhabarber-Kuchen kommt mit einem Klecks Vanilleeis daher und schmeckt hervorragend. Ich nehme nur deswegen keine zweite Portion, weil ich den Kindern nichts wegessen will (Das Rezept findest du hier).
Es dauert eine Zeit, bis ich realisiere, dass Laura entwicklungsverzögert ist. Ich wusste es zwar schon, bevor ich gekommen bin und habe auch darauf geachtet, aber es fällt nicht sehr stark auf. Laura reflektiert sich selber mehr als die meisten Kinder in ihrem Alter. Womit sie ihre Schwierigkeiten hat, weiß sie selber daher auch sehr gut: Freunde finden in der Schule, alleine weite Wege gehen, und ihre Stimmungen im Griff haben.
Wenn sie keinen Stress machen, kann man auch leichter wegschauen
Tobias war ein forderndes Baby. Mit sechs Wochen wollte er schon nicht mehr im Wagerl oder im Maxi Cosi liegen. Er musste die Welt sehen und konnte mit zehn Monaten auch schon laufen. Laura war hingegen sehr pflegeleicht, konnte erst mit neun Monaten sitzen und erkundete ihre Umgebung viel weniger offensiv als ihr Bruder. Einige Bekannte äußerten vorsichtig Bedenken, ob mit Laura alles ok sei, aber Emma war dafür die erste Zeit nicht empfänglich. Erst mit vier Jahren kam Laura in die orale Phase, in der sie alles in den Mund stecken wollte. Davor hatten die Eltern spitze Gegenstände, wie Spangerln und Scheren, kaum vor ihr verstecken müssen, weil sie kein Interesse zeigte. Wenn die Kinder durch ihr Verhalten keinen Stress machen, kann man auch viel leichter wegschauen, meint Emma. Aber irgendwann fiel Emma auf, dass Laura im Kindergarten immer alleine dasaß, wenn sie abgeholt wurde. Laura ist ein sehr soziales Kind. Knüpft manchmal fast zu schnell Kontakte mit unbekannten Menschen, aber die anderen Kinder tun sich schwer im Umgang mit ihr. Irgendwann war es nicht mehr zu übersehen, dass es Probleme gab. Die Eltern ließen sie daher testen. Es tat sehr weh, sich eingestehen zu müssen, dass sich Laura mit ihrer leichten Behinderung, auch mit viel Förderung, ihr Leben lang schwerer tun wird als andere.
Emma: Das ist ein Trauerprozess, der ein Leben lang dauert. Du verabschiedest dich von einem gesunden Kind und begrüßt ein Kind, das eine Behinderung hat. Jedes Mal, wenn Situationen kommen, in denen ein gesundes Kind dies oder jenes machen würde, dein Kind aber nicht in der Lage dazu ist, wirst du immer aufs Neue traurig werden. Ich kenne eine Familie – die Eltern sind Ärzte – da machten die Kinder im Bekanntenkreis Matura und die Mutter hatte einen Zusammenbruch, weil ihr wieder bewußt wurde: Die anderen Kinder werden heiraten, werden Kinder kriegen. Das eigene nicht.
Die Erkenntnis schleicht sich meisten langsam an die Eltern heran
Entwicklungsverzögerungen oder eine leichte Behinderung werden sehr oft nicht entdeckt, diagnostiziert und behandelt. Man nimmt an, das Kind sei vielleicht etwas faul oder brauche mehr Zeit, und außerdem will man ungern ein Kind als entwicklungsverzögert stigmatisieren, das sich eigentlich ganz gut durchschlägt. In schätzungsweise jeder vierten Familie gibt es ein Kind mit einer leichten Beeinträchtigung. Die Erkenntnis schleicht sich meistens langsam an die Eltern heran. Im Babyalter achtet man nicht so genau auf die unterschiedlichen Entwicklungsrückstände. Man geht davon aus, dass der nächster Entwicklungsschub einen Ausgleich schaffen wird. Oft wird es den Eltern erst in der Schule bewusst, dass das eigene Kind sich nicht ganz so gut entwickelt wie die AltersgenossInnen und auch dann ist nicht klar, wie man dem Kind helfen kann. Wie sagt man das der LehrerInnenschaft? „Mein Kind ist zwar nicht behindert, aber eigentlich doch ein wenig…?“ Und wie löst man die Frage der Schulwahl? Die Sonderschule ist eigentlich auf verhaltensauffällige, lernschwache Kinder ausgerichtet. Nicht unbedingt auf Kinder mit Entwicklungsverzögerungen. Die Regelschule erst recht nicht.
Wird mein Kind jemals einen Job bekommen?
Eine weitere wichtige Frage: Wie kann ich meinem Kind helfen, später einen Job zu bekommen? Oder soll ich ihm die Realität dort draußen ersparen? Man kann mit ihm ganz normale Gespräche führen und Spass haben. Mein Kind kann einfache Tätigkeiten zuverlässig durchführen und bemüht sich alles richtig zu machen. Aber es haut vielleicht schneller mal die Nerven weg, wenn etwas nicht so gut klappt. Es kann sich nicht so gut wehren, wenn Probleme auftauchen und manchmal gibt es sonderbare Antworten. Wie wird die Umwelt also mit meinem Kind umgehen? Wird man es verlachen, mobben und ausnutzen? Oder kann man sich darauf verlassen, dass es auch empathische, nette Menschen gibt, die erkennen, dass mein Kind ein Gewinn für die Firma ist? Eine schwierige Situation für die ganze Familie.
Emma: Zu erwarten, dass dein Partner dich in dieser Situation auffangen kann, ist leider falsch. Denn er muss das alles auch verarbeiten. Du bist daher in dieser Situation eigentlich alleine.
Familie Rockt: Beide sind für sich gesehen alleine?
Emma: Ja. Ich kann mich erinnern, dass ich schluchzend auf der Couch gesessen bin und meinen Mann davon erzählt habe.Und er hat mich nicht in den Arm genommen. Ich habe damals nicht verstanden, warum er das nicht tut. Im Nachhinein denke ich mir: Wir sind beide dagesessen und haben gleichzeitig über dasselbe Problem gebrütet.
Man kann nicht sagen: Die eine Person ist die Leidtragende und die andere ist die Tröstende. Es sind ja beide betroffen.
Emma: Genau. Im ersten Moment dachte ich: „Ich bin traurig und du hast mich jetzt zu trösten.“ Aber so ist es nicht. Ich habe ihm das aber irrsinnig lange übelgenommen.
Man denkt vielleicht auch: Der Tröstende verarbeitet seine Trauer, indem er eben tröstet.
Emma: Ja, aber das stimmt nicht. Damit er getröstet werden kann, muss wiederum ich ihn in den Arm nehmen. Die Auf und Ab’s sind heftig.
Als Laura fünf Jahre alt war, bekam Emma ihr drittes Kind. Die Schwangerschaft war nicht leicht. Emma hatte viele Schmerzen, aber man konnte ihr nicht helfen. Wenige Tage nach der Geburt erlitt Jonathan einen epileptischen Anfall. Er wurde aber nicht als solcher erkannt.
Emma: Du kannst ein pumperlg’sundes Kind von einem Tag zum anderen durch einen epileptischen Anfall verlieren. So ein Anfall kann ganz viel im Kopf kaputt machen.
Danach ging es trotzdem bald nach Hause und Emma stillte den Säugling, wie auch die anderen zwei Kinder zuvor. Nur leider wurde Jonathan nicht richtig satt. Das Saugen fiel ihm schwer. Seine Kraft reichte nur für die Vormilch. Emma musste auf Flaschenmilch umstellen. Es dämmerte ihr, dass Jonathan eine Behinderung haben könnte. Mit sechs Monaten musste sie sich eingestehen, dass der Bub kaum auf äußere Reize reagierte. Nicht einmal auf Licht. Sie stand mitten am Christkindlmarkt, als es ihr mit einem Stich ins Herz ganz klar bewußt wurde. Mitten unter den Leuten fing sie hemmungslos zu weinen an.
Jonathan kann nicht laufen und nicht sprechen, er muss gefüttert und gewickelt werden. Er ist ein großes Baby, könnte man sagen. Aber ganz so einfach ist es auch nicht. Seine Augen lassen in eine ältere, erfahrenere Seele blicken. Man merkt, dass er von seiner Umgebung differenziert gespiegelt wurde, denn seine Augen werfen diese Blicke zurück.
Emma: Sein Name ist Jonathan. Das heißt Geschenk Gottes. Und er ist wirklich ein Geschenk Gottes.
Laura: Und ich? Bin ich auch ein Geschenk Gottes?
Emma: (lacht) Ja! Die Kombination von unseren drei Kindern hat etwas Wunderbares mit uns gemacht. Und ich habe ein unglaubliches Bedürfnis anderen zu helfen. Wahrscheinlich auch, weil ich damals so alleine dagestanden bin.
Familie Rockt: Und wie geht es euch Erwachsenen in der Beziehung?
Emma: Vor allem in Krisenzeiten sind wir ein wahnsinnig tolles Team. Da funktioniert alles automatisch. Durch die Schwiegermutter können wir uns ein wenig Freiheit gönnen, aber in den nächsten Jahren werden wir wohl keinen Urlaub zu zweit machen.
Emma war früher Hausdame in einem teuren Wiener Hotel. 60-Stunden-Wochen waren keine Seltenheit. Dafür aber war Lob selten. Heute arbeitet sie zwei Tage die Woche im Giraffenland, einem poppigen netten Stoffladen im 18. Bezirk. Sie näht selber leidenschaftlich gerne. Beispielsweise bunte Spucktücher für Jonathan, die er passend zur Kleidung tragen kann. Ein Vollzeitjob würde sich mit der Pflege von Jonathan und Laura kaum vereinbaren lassen. Er kann zwar in den Kindergarten gehen und die Schwiegermutter ist auch eine große Hilfe, aber er muss regelmäßig zum Arzt oder ins Spital und natürlich zur Therapie. Laura schafft zwar die meisten Dinge selber, aber ihre Betreuung ist auch anspruchsvoll. Ihre Stimmungen gehen rauf und runter. Kleine Probleme können bereits ein Drama auslösen und sie braucht daher viel Zuspruch. Außerdem kommt sie manchmal auf sonderbare Ideen: Beispielsweise allen Familienmitgliedern im Schlaf ihre Lieblingspastillen in den Mund zu legen. Gut gemeint aber nicht unbedingt ungefährlich. Ihr Zimmer ist ganz in Rosa ausgestattet und man merkt, das ist Lauras Reich. Hier fühlt sie sich wie auf Wolken.
Familie Rockt: Ist Rosa das Beste auf der ganzen Welt?
Laura: Nein, das Beste auf der ganzen Welt ist meine Familie.
Das sagt sie mit ihrer geerdeten und klugen Stimme und es ist klar: Wenn es um Gefühle geht, da kennt Laura keine Ironie.
Vor drei Jahren startete Emma den Verein get2gether
Für Kinder mit besonderen Bedürfnissen gibt es therapeutische Angebote, spezielle Kindergärten und Fördereinrichtungen.Was es weniger gibt, sind Freizeiteinrichtungen, die auf die Bedürfnisse besonderer Menschen ausgerichtet sind. Wenn Eltern mit besonderen Kindern etwas unternehmen wollen, müssen sie ihren Besuch in der Regel voranmelden, damit sich der Veranstalter darauf vorbereiten kann. Dabei brauchen gerade diese Familien unkomplizierte Möglichkeiten, mit ihren Kindern eine nette außerhäusliche Zeit zu verbringen. Offensichtlich wird aber angenommen, dass hier kein Bedarf besteht. Als wären diese Kinder praktisch immer nur in Therapie, oder als könne man ihnen nicht zumuten, das sichere Heim zu verlassen. Emma träumt daher von einem eigenen Freizeitzentrum für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Vor drei Jahren startete sie den Verein get2 gether. Seither bereitet sie dieses Projekt vor. Kürzlich hat auch eine Bank ihre Unterstützung zugesichert. Gemeinsam wollen sie Sponsoren suchen. Die Stadt Wien hat noch kein Interesse gezeigt, sich zu involvieren. Ein behindertes Kind großzuziehen ist auch in der sozialdemokratischen Hochburg eine private Angelegenheit. Im get2 gether-Zentrum sollen erwachsene Menschen in einer Puppenecke spielen dürfen, gehbehinderte Menschen sich motorisch erproben können, Geschwisterkinder eigene Rückzugsorte und Eltern Chill-Out-Zonen zu Verfügung gestellt bekommen. Sich mal in einen Massagesessel zu setzen, während das Kind sich austoben kann, kann sehr entspannend sein. Emma will auch, dass man behinderte Menschen öfter in der Öffentlichkeit sieht. Wenn sie mit anderen Vereinsmitgliedern von get2 getherdurch die Strassen ziehen, kommt ein bissi GangFeeling auf. Gemeinsam ist es einfach leichter und cooler, durch die Stadt zu cruisen.
Es wäre für uns alle erleichternd zu wissen: Falls wir auch in diese Lebenslage kommen sollten, dann bleiben wir ein Teil dieser Stadt. Wir verstecken uns nicht, und es gibt Freizeitangebote, die auf uns zugeschnitten sind.
Familie Rockt: Möchtest du ein viertes Kind?
Emma: An manchen Tagen ja und an manchen nicht.
Laura: Ich will eine Schwester! (sie schaut skeptisch zu Tobias, mit dem sie sich in der letzten halben Stunde ein paar Scharmützel geliefert hat)
Emma: Nachdem Jonathan fast wie ein Baby ist, ist der Babywunsch nicht so groß.
Familie Rockt: Sollte er in den nächsten Jahren gehen lernen, könnte sich das ändern?
Emma: Er hat in den letzten Wochen begonnen, zaghaftes Interesse fürs Stehen zu entwickeln. Das ist natürlich fantastisch! Das könnte bedeuten, dass er tatsächlich noch gehen lernt. Und da wäre ein viertes Kind schon ein Thema. •
Hier erfährst du mehr über den Verein, den Emma gegründet hat:
11 Kommentare
Liebe/r Angehörige/r (nicht nur Mamas, sondern auch Väter oder Geschwister)!
Ich verfasse momentan im Rahmen meiner Ethik-Ausbildung meine Abschlussarbeit. Es geht dabei um das Thema „Resilienz von Familien mit beeinträchtigten Kindern“ und in diesem Zusammenhang habe ich einen zweiteiligen Fragebogen erstellt, dessen Beantwortung 5-10 Minuten in Anspruch nimmt.
Alle Daten werden vertraulich behandelt, anonymisiert ausgewertet und nur für diese Arbeit verwendet. Es gibt auch keine richtigen oder falschen Antworten – Ihre/deine persönliche Einschätzung und Erfahrung sind gefragt!
Mit Ihrer/deiner Teilnahme leisten Sie/leistest du einen großen Beitrag zur Untersuchung meiner Forschungsfrage. Ganz besonders würde ich mich darüber freuen, wenn Sie/du den Fragebogen auch an andere Betroffene weiterleiten könnten/könntest.
Teil 1: https://de.surveymonkey.com/r/VDRWYNH
Teil 2: https://de.surveymonkey.com/r/VD3RDCG
Vielen Dank für Ihre/deine Unterstützung!
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