Alice Miller – Mit seiner Kindheit schwanger gehen…

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Alice Miller tot

Alice Miller und ihr Kampf die Gesellschaft von ihrer Ignoranz zu befreien.

von Greta Stern

‚Solange die Öffentlichkeit keinen Sinn dafür entwickelt, dass täglich unzählige Seelenmorde an Kindern begangen werden, an deren Folgen die Gesellschaft zu leiden haben wird, tappen wir im dunklen Labyrinth.‘ (Alice Miller)

Ein Labyrinth, in dem Säuglinge und Kleinkinder von Erwachsenen misshandelt, Schutz- und Hilfebedürftige im Dunst religiöser Beweihräucherung gedemütigt und genötigt werden, eines in dem sich städtische Sonntagsspaziergänger durch den Tod eines Drogensüchtigen auf offener Straße das Schönwetter nicht vermiesen lassen, weil sie meinen er hätte es verdient, eines in dem Minderjährige die, zu bewaffneten Gangs zusammengerottet, in Parks Gleichaltrigen die Handys und Ipods klauen nicht realisieren, dass sie sich in einer Sackgasse befinden und mit Gewalt nur eine kleine Mauer des Irrgartens eintreten hinter der erneut eine Sackgasse ist. Der Weg in das Zentrum dieses Labyrinths versinnbildlicht die Suche nach der eigenen Identität – eine Identität die einem in der Kindheit nicht genug oder gar nicht bestätigt wurde. Ein Faktor der Alice Millers These ‚Das Böse wird in jeder Generation neu erschaffen. Das Neugeborene ist unschuldig‘ zugrunde liegt.

Für die schweizerische Psychoanalytikerin Alice Miller, die zeitlebens bemüht war mit ihrem Schaffen die Gesellschaft von ihrer Ignoranz zu befreien, war die Bestätigung der kindlichen Identität essenziell. In ihrer Begriffsbestimmung der frühkindlichen Realität geht es vorrangig um die respektvolle Sensibilisierung des Kindes zur Stärkung seines Selbstbewusstseins die nur möglich sei, wenn Eltern oder Verwandte schon von Beginn an als empathischer Spiegel fungierten der es dem Kind ermögliche, die eigenen Gefühle bewusst zu erleben. Dieses bewusste Erleben stärke ihr Selbstvertrauen und bewahre Kinder zukünftig davor diese Gefühle auf Irrwegen ihr restliches Leben lang zu suchen und somit ewig Kind zu bleiben. Wird diese Reflexion dem Kind nicht ausreichend ermöglicht und erfahre es keine Wertschätzung sondern Misshandlung, können Depressionen, Aggression und Selbstentfremdung die Folge sein. Das Leben würde somit zu einer Suche nach sich selbst –  und nach der Wahrheit über seine Kindheit.

Angst und Stress

Alice Miller, die durch ihre ersten beiden Bücher Das Drama des Begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst 1979 und Am Anfang war Erziehung 1980 Weltruhm erlangte und der Psychoanalyse neue Wege ebnete, verstarb 87jährig am 14. April 2010 in ihrem Domizil in der Provence. Gefeiert auf der einen Seite, umstritten auf der anderen. Dr. Brigitte Sindelar, klinische Psychologin an der Sigmund Freud Universität Wien, hat sich intensiv mit Alice Miller beschäftigt und beurteilt das Kritikverhalten ihrer Gegner vor allem als Männersache, denn »die Reaktionen der Fachwelt pendelten sich zwischen grandios bis ablehnenswert, weil unwissenschaftlich ein. Es drängt sich mir hierbei aber vor allem der Verdacht auf, dass unwissenschaftlich mit unmännlich assoziiert werden muss. Sie hat mit ihrer Vernetzung der Psychoanalyse mit Erziehung durchaus im Sinne Freuds gehandelt, aber dennoch hat Miller es gewagt, als Frau dem ‚jüdischen Vater‘ Sigmund Freud zu widersprechen. « Sie war die erste, die sich in ihren Ansichten auf die Seite des Kindes und nicht auf jene der Eltern stellte. Ihre Analysen, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung cerebraler Langzeitfolgen geschlagener Kinder und Säuglinge darstellten, die in weiterer Folge klinisch nachgewiesen werden konnten und bestätigten, dass sich Schläge auf die Zerstörung bestimmter Hirnareale auswirken, ließen und lassen keinen Zweifel an der gesamtgesellschaftlichen Wichtigkeit der Thematik.

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Alice Miller erkannte die Dramen die sich in Erziehungsheimen und katholischen Einrichtungen abspielten, doch es gelang ihr zeitlebens nicht, trotz zahlreicher Briefe an die Kirchenväter, das Interesse für das brennende Problem des geschlagenen Kindes zu wecken. Eine Thematik die auch aktuell die Medienlandschaft prägt.

Der Stil ihrer Analysen fand reges Echo, nicht zuletzt da Miller anhand bekannter Persönlichkeiten wie Adolf Hitler oder dem Kindermörder Jürgen Bartsch die Tragik von Verbrechen an Kindern zu veranschaulichen versuchte die zuerst Opfer waren und später “ als Erwachsene “ zu Tätern wurden. Sie war der Meinung, dass in jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind stecke das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt habe.

Die Unbarmherzigkeit mit der Alois Hitler seinen Sohn Alois jr. (Adolf) bereits in einem Alter von unter vier Jahren auspeitschte und schlug, die Unnachgiebigkeit mit der der tyrannische Vater absoluten Gehorsam von der gesamten, ihm untergebenen Familie forderte, prägten das Kind und sollten den Wunsch, später selbst dieser alleinige ‚Führer‘ zu sein, nähren. Hitlers Judenhass und die Einführung der Rassengesetze sind auf die Verleugnung seiner eigenen jüdischen Abstammung und dem damit verbundenen Identitätsverlust in frühester Kindheit zurück zu führen. Für Alice Miller wird der Jude für Hitler außerdem zum Träger all jener bösen und verachtenswerten Eigenschaften, die das Kind am eigenen Vater beobachtet hat. ‚Wenn es gelingt, seinen ganzen aufgestauten Haß auf ein Objekt zu richten, ist es zunächst wie eine große Erlösung. »Wo immer ich ging, ich sah nur Juden. « soll Hitler gesagt haben. Millionen von Unschuldigen sollten mit ihrem Leben bezahlen.

Jürgen Bartsch entführte, folterte, vergewaltigte und häutete vier Kinder. Als Sohn einer tuberkulösen Mutter im Krankenhaus zurückgelassen, von seiner herrischen, sauberkeitsfanatischen Adoptivmutter täglich misshandelt und genötigt wurde er von seinen Eltern, aus Angst vor dem Bekanntwerden der Adoption, von anderen Kinder isoliert und im Keller ‚gehalten‘. Ein Kellerleben, das der Mörder mit seinen späteren Opfern erneut durchleben sollte. Die in immer dem selben Luftschutzbunker begangenen Verbrechen an Kindern sind laut Miller die Wiederholung des ihm widerfahrenen Leids und Ausdruck des Zorns über das ihm verbotene Leben draußen. Denn drinnen, dort gibt es nur Tod.

Kritik an der Psychoanalyse und an der Erziehung

Durch die leichte Lesbarkeit verkauften sich ihre Erstlingswerke in Höchstauflagen, obwohl die zahlreichen Kritiker den Zugang verteufelten den Alice Miller sich zu ihren Lesern verschaffte in dem sie ihr bereits gemahlenes Korn im lockeren Boden pseudo-unterbewusster Identifikation sähe. Für Dr. Brigitte Sindelar sei das Geheimnis ihres Erfolges aber vor allem ihr Talent gewesen »sprachlich fassbar zu machen, was aus einer  – entwicklungspsychologisch gesehen – vorsprachlichen Gefühlswelt stammt, und es nicht nur PsychotherapeutInnen nachvollziehbar zu machen, welche Konsequenzen die Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung hat. Ihre Schriften sind daher für mich im Einsatz in der Lehre der Psychotherapiewissenschaften und in der Ausbildung von PsychotherapeutInnen von hoher Bedeutung «

Die immer lauter werdende Kritik Millers an der Psychoanalyse in den 1980ern führte dazu, dass sich die einst leidenschaftliche Psychoanalytikerin nach 20 Jahren von der Psychoanalyse abwandte. Für sie nach eigener Aussage die einzig ehrliche Reaktion, da die Psychoanalyse stagniere und die im Körper von frühester Kindheit an gespeicherten Leiderfahrungen nur mit Hilfe freudscher Verdrängungstaktik zu übergehen versuche und kindliche Traumata als Phantasien bagatellisiere. Für Brigitte Sindelar ist dies eine Trotzreaktion, die als »Übertragung ihres eigenen kindlichen Leides zu verstehen « sei. Als Folge davon trat sie 1988 aus der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse aus und bezeichnete sich fortan als Kindheitsforscherin. Die wissenschaftliche Isolation in der sie nun ihre Folgewerke schrieb, in denen sie beispielsweise die Kindheit Franz Kafkas, Friedrich Nietzsches oder Pablo Picassos zunehmend an Vermutungen aufrollt, werden dem ursprünglichen analytischen Ansatz ihrer Erstlinge nicht gerecht. Späte Werke wie beispielsweise Evas Erwachen 2001 stehen vor allem aufgrund der Wiederholung von bereits Gesagtem, dem zunehmend plakativen Stil und wegen des hanebüchenen Gut-Böse-Ideals in Kritik. Ein Ideal das sich mit den Jahren, in denen ihre eigene Kindheit immer mehr in die Ferne rückte, mystifizierte und sich so vermutlich umso schärfer seinen Weg in ihre Seele bahnte. Als Kind eines gescheiterten, mittelständischen Bankiers und einer angepassten Hausfrau 1923 im damals polnischen Lemberg geboren, erlebte Alice Miller – als eines von zwei Mädchen – an der Seite ihrer rollentypischen Eltern und ihrer dominanten Brüder eine Kindheit voller Demütigungen und emotionaler Verwahrlosung nach den Erziehungsmustern der Schwarzen Pädagogik. »Miller war, wie die meisten Kinder dieser Zeit  – und auch der heutigen – ein Opfer dieser Erziehung. Sie war das erste Kind einer jüdischen Familie, ein Mädchen, also eine nächste ‚rechtlose Frau‘ wie ihre Mutter. Da die traditionelle jüdische Familie sich als erstes Kind einen Buben erhofft, war sie vielleicht auch eine Enttäuschung für ihre Eltern « so Sindelar. Die Folgen dieser Erziehung waren verdrängtes Leid. Leid, dem sie sich nach den Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges, der sie zur Emigration in die Schweiz trieb, emotional nicht widmen konnte. Eine Tatsache, die sie später vermutlich dazu brachte die Gewalt die ihr Ehemann, der Soziologe Andreas Miller, gegen den gemeinsamen Sohn Martin ausübte zu tolerieren. Martin Miller, wie seine Mutter Psychotherapeut, brach sein Schweigen und äußerte sich im Interview mit dem Spiegel 2009 erstmals zu den Schlägen seines Vaters. Die Ehe wurde geschieden und vor ihrem Tod bedauert Alice Miller öffentlich, dass sie nicht die Stütze für ihren Sohn war die sie hätte sein können. Eine Verhaltensweise die besonders gut zu Millers Konzept des ‚wissenden Zeugen‘ (eine Person die mitfühlt und dem Kind zur Seite steht) passe, meint Sindelar, denn »gerade ihr Engagement gegen die Gewalt in der Erziehung könnte auch einen Anteil der Kompensation ihrer eigenen Erfahrungen sowohl als Mutter als auch als Kind sein. Man beforscht bevorzugt das, worunter man selber leidet «.

Die Suche nach der Wahrheit und die Angst vor dem Zwang der Wiederholung waren vermutlich Motivation für Alice Millers Berufswahl, war sie doch der Ansicht, dass keiner alles so genau über die Wahrheiten der Kindheit erfahren wolle wie ein Psychotherapeut, und das vor allem aus dem Grunde, weil er von seiner eigenen Kindheit nichts wisse. Alice Miller bestätigt diese Vermutung indem sie schreibt, sie habe ihr erstes Buch vor allem für sich selbst, zur Aufarbeitung ihrer eigenen Kindheit, geschrieben.

Sie hatte allen Grund dazu. Der Aufstieg Hitlers, den sie hautnah in Berlin miterlebte, entsetzte sie tief. Das Verlassen Lembergs nach dem Einfall der Russen in den 1940ern, das Zurücklassenmüssen der gewohnten – obwohl empathielosen – Umgebung in jungen Jahren und der harte Neubeginn als polnische Emigrantin in der Schweiz machten Miller zu einer Heimatlosen. Nicht ohne Grund bezeichnete sie die Psychotherapie als ‚Heimfindung‘. Alice Miller war eine Frau die das Schweigen um ihre Kindheit – aus beruflichen Gründen, aus Angst vor Stigmatisierung – nie gebrochen hat, selbst vor ihrem Sohn schwieg sie zu den Geschehnissen denen sie zeitlebens flüchtig bleiben sollte. Einen Schritt aus sich heraus wagte sie mit ihren Bildern. Den Bildern der Künstlerin Käthe Kollwitz, die wie Picasso eines ihrer zahlreichen Fallbeispiele war, maß Miller in ihren späten Jahren jedoch keinen großen analytischen Deutungsaufwand mehr zu, da sie der Meinung war, man könne ohnehin die Kindheit der Kollwitz in ihren Bildern ersehen. Die Frage, ob Alice Miller mit ihren eigenen Bildern dieselben Ansprüche an ihre Umwelt stellte, bleibt unbeantwortet.

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Posthum fasst ihre Bibliographie stattliche 13 Bücher. Bücher, die sie nur aus einem einzigen Grund begonnen hatte zu schreiben, nämlich damit die Menschheit mit den dargelegten psychoanalytischen Ansätzen den Mut finde, sich den Grausamkeiten ihrer Kindheit zu stellen, auf dass diese ausgemerzt und nicht an die nächste Generation weitergegeben werden würden. Ein bahnbrechender Ansatz der Miller laut Sindelar »zu einer der Pioniere in einem Aspekt der psychotherapeutischen Arbeit und auch Technik machte, der mittlerweile in allen tiefenpsychologischen Methoden, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis, große Beachtung findet, nämlich die Prozessanalyse, wo es um das Verstehen und auch Einsetzen der Beziehung zwischen Patient und Therapeut geht «. Ein Ansatz der jedoch später in paranoid-abgeklärte Sichtweisen münden sollte, die Millers verloren gegangenen Sinn für Mehrdeutigkeit und die Qual der Allgegenwart ihrer eigenen Kindheit auch heute noch spürbar machen.

Anmerkung der Redaktion:

Wie wichtig die Aufarbeitung der eigenen Kindheit und Reflektion der eigenen Persönlichkeit ist, konnte man erkennen, als Martin Miller, auch Psychotherapeut, ein Buch über seine Mutter schrieb und schwere Anklagen erhob. Seine Mutter hatte ihn nie respektiert immer instrumentalisiert. Sie ließ ihn bespitzeln und machte ihn psychisch runter. Sie ist selbst immer Kind geblieben und konnte keine konstruktive Mutterperson sein. Mehr dazu könnt ihr hier lesen. Ein erschütternder Bericht.

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